VOM REICHTUM UNSERER SPRACHE

 












Vom Reichtum oder Armut einer Sprache zu messen, gehen wir von der Grundfunktion der Sprache aus: von ihrer Rolle als Hauptmittel zur Verständigung. Dies bedeutet, daß uns eine Vielzahl sprachlicher Zeichen, also Wörter und grammatische Mittel, zur Verfügung stehen, um beliebige Inhalte auszudrücken und anderen mitzuteilen. Dabei kann es sich um Inhalte der verschiedensten Art, um Anordnungen, Fragen, Beobachtungen, Berichte usw. handeln. Für jeden Inhalt muß daher eine passende sprachliche Form gesucht und für neue Inhalte unter Umständen auch eine völlig neue Form (z. B. neue Wörter) geschaffen werden. Da letzten Endes für die sprachliche Form der Inhalt dessen, was ich sagen will, entscheidend ist, liegt es nahe, die Leistungsfähigkeit, den Reichtum einer Sprache daran zu messen, welche Inhalte durch sie bisher ausgedrückt worden sind. Dieser Reichtum ist ablesbar an den mit Hilfe einer Sprache geschaffenen Werken der Literatur, Wissenschaft, Philosophie usw., denn in diesen Bereichen des Sprachgebrauchs werden die höchsten Anforderungen an die Sprache gestellt.

Während es in der Wissenschaft vor allem auf die begriffliche Schärfe, auf Eindeutigkeit und Klarheit der Darstellung ankommt, ist die Sprache in der Literatur eine weit bildhaftere Widerspiegelung des Lebens und der Gefühlswelt. Doch die herausragenden Gipfel des Sprachgebrauchs können sich nur auf einem sicheren und tragfähigen Untergrund erheben, dieser ist aber die sprachliche Vielfalt der ganzen Sprachgemeinschaft, der Nation. Schließlich ist es die lebendige Sprache des täglichen Lebens, die, indem sie auf die materiellen und geistigen Veränderungen unserer Gesellschaft reagiert, ständig neue Wörter und andere neue Ausdrucksformen bildet. Wir können mit Stolz sagen, daß unsere deutsche Sprache einen großen und reichhaltigen Vorrat von sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten hervorgebracht hat, seien es einzelne Wörter oder grammatische Fügungen. Dieser Vorrat steht uns allen uneingeschränkt zur Verfügung. Aber nutzen wir ihn genügend, und bemühen wir uns, ihn lebendig zu erhalten? Tatsächlich gibt es in unserer Sprachpraxis Erscheinungen, die wir teilweise durchaus als Zeichen einer Verarmung und eines Sprachverfalls bewerten müssen.

Zu ihnen gehören die sogenannten Modewörter. Einem solchen Modewort sind wir zum Opfer gefallen, wenn wir z.B. sagen oder schreiben: ‚Man muß in diesem Zusammenhang die besondere Leistung des Kollegen X herausstellen‘ oder: ‚Man muß herausstellen, daß…‘ Denn eigentlich meinen wir, daß man – im ersten Satz – die besondere Leistung des Kollegen X würdigen oder anerkennen müsse, und in dem anderen Fall, daß etwas zu betonen oder festzustellen oder auch nur einfach zu sagen sei, Diese und andere Wortbedeutungen hat das Modewort herausstellen’ in sich aufgezogen. Es blähte sich selbst zu einem Schwammwort auf, das zwar sehr bequem, aber völlig nichtssagend geworden Ist; denn von seiner eigenen, ursprünglichen Bedeutung, ‚etwas aus dem Raum, in dem es sich bisher befand, ‚herausnehmen’, aus der sich dann die Bedeutung ‚auszeichnen‘ zu entwickeln begann, ist nichts mehr übriggeblieben. Ein ähnliches Modewort ist ‚durchführen‘; Vorträge, Konzerte, Auslandsreisen, Theaterbesuche usw. werden ‚durchgeführt‘, und nur selten gibt man sich die Mühe, das dem jeweiligen Inhalt entsprechende Verb zu suchen. In jüngster Zeit hat sich ‚einschätzen‘ verbreitet und solche Verben wie beurteilen, bewerten, veranschlagen, wägen, werten usw. verdrängt, ohne je deren Bedeutung wirklich ersetzen zu können. Besonders sprachwidrig wird ‚einschätzen‘ in der Wendung ‚er schätzte ein, daß… gebraucht, denn dieses Verb verlangt von Hause aus ein Objekt im Akkusativ, das eingeschätzt wird.

Nicht selten treten auch Fremdwörter als Modewörter auf, da ihre eigentliche Bedeutung meist unbekannt und sie deshalb leicht mit einem willkürlichen und unklaren Inhalt gefüllt werden können. Zu ihnen gehören z. B. ‚orientieren‘, ‚perfekt‘, ‚maximal‘. Zu einer Entleerung der sprachlichen Inhalte und damit zu einer Verarmung der Sprache kann auch die Unart führen, die Größe, Bedeutung oder Wichtigkeit einer Sache zu übertreiben und zu Superlativen zu greifen. Da genügt es nicht mehr, eine Sache als wichtig zu bezeichnen; sie wird zu der ‚wichtigsten‘ oder gar ‚allerwichtigsten‘ Sache. Sinnvoll ist der Gebrauch der höchsten Steigerungsstufe ja nur dann, wenn
es sich um einen unmittelbaren Vergleich handelt und eine Größe tatsächlich aus allen anderen herausgehoben werden soll.

Aber in den erwähnten Fällen handelt es sich gar nicht um einen richtigen Vergleich, denn nur selten wird der Inhalt der ganzen Aussage eine derartige Heraushebung rechtfertigen. Der Ausdruck ‚seine Aufgabe‘ z. B. bezeichnet schon einwandfrei den Sachverhalt; hier wird aber häufig nicht nur zu der noch bescheidenen Steigerung ‚seine eigene Aufgabe‘ fortgeschritten, sondern es werden schließlich solche Superlative gewagt wie ‚seine eigenste Aufgabe‘ oder gar ‚seine ureigenste Aufgabe‘. Der Mitteilungsgehalt einer derartigen Steigerung ist damit völlig verloren gegangen. Um Übertreibungen dieser Art zu erzielen, werden oft Modewörter wie ‚höchst‘, ‚maximal‘, ‚global‘, ‚breit‘ usw. verwendet. Während der Sprecher oder Schreiber solcher Ausdrücke glaubt, durch eine derartige Ausdrucksweise den Hörer oder Leser zu fesseln, zeigt sich bald eine entgegengesetzte Wirkung. Denn der Widerspruch zwischen der in den meisten Fällen bescheidenen Bedeutung der mitgeteilten Angelegenheit und der bombastischen Sprache führt dazu, daß der Hörer auch den tatsächlichen Mitteilungsinhalt nicht mehr ernst nimmt. Die ursprüngliche Absicht des Sprechers, den Inhalt aufzuwerten, verwandelt sich in ihr Gegenteil, er wertet ihn ab. Eine negative Erscheinung in unserer Gegenwartssprache ist auch die Neigung, einfache Tätigkeiten umständlich durch eine Wortgruppe, bestehend aus einem Substantiv und einem Verb, auszudrücken. Statt ‚ausdrücken‘ hört man häufig ‚zum Ausdruck bringen’, statt ‚verkaufen‘ ‚zum Verkauf kommen‘, statt ‚verteilen‘ ‚zur Verteilung gelangen‘, statt ‚einsetzen’ ‚zum Einsatz kommen‘ oder ‚bringen‘, für ‚beweisen‘ sagt man ‚unter Beweis stellen‘ usw. 

In diesen neuen Ausdrücken ist im Grunde genommen eine Verteilung der Aufgaben eingetreten, die früher allein dem Verb zustanden: das Substantiv der Wortgruppe wird zum Träger der Bedeutung, das Verb dagegen ist fast völlig von aller stofflichen Bedeutung entleert und drückt höchstens ganz allgemein eine Tätigkeit aus (kommen, bringen, gelangen usw.) ; es übernimmt nur noch die grammatischen Aufgaben des Prädikats.

Man spricht in solchen Fällen von ‚nominalem Stil‘, weil das ursprüngliche Verb in ein Nomen verwandelt wurde, und bezeichnet die hier auftretenden Verben als Streckverben, weil sie den ursprünglich kurzen und prägnanten verbalen Ausdruck umständlich ausdehnen, strecken. Eine Folge dieser oft überflüssigen Umständlichkeit ist es, daß Lebendigkeit und Dynamik der Ausdrucksweise, die früher durch das Verbum erreicht wurden, nun verloren gehen; man sagt mehr, ohne inhaltlich mehr zu sagen. Auf diese Weise erhalten wir eine schleppende, mit vielen abstrakten Wortbildungen beladene und dadurch unanschauliche Sprache, denn die ehemaligen Verben erscheinen jetzt als abstrakte Substantive: ‚Verkauf‘, ‚Verteilung‘, ‚Einsatz‘, ‚Ausdruck‘, ‚Beweis‘ usw. Hier ist die Forderung völlig berechtigt, auf solche Umschreibungen zugunsten der einfachen Verben zu verzichten. Allerdings wird das in manchen Fällen gar nicht mehr möglich sein. Ein Beispiel dieser Art bietet der Ausdruck ‚ein Referat halten‘. Es läge nahe zu verlangen, statt dessen einfach ‚referieren‘ zu sagen. Doch wird man heute schon nicht mehr über den Unterschied hinwegsehen können, der: sich zwischen ‚Referat halten‘ und ‚referieren‘ herausgebildet hat. In solchen und ähnlichen Fällen macht sich eine Entwicklung bemerkbar, die im ganzen zu einer Bereicherung der Sprache führt und auch durch stilistische Warnungen nicht aufgehalten werden kann.

In diesem Zusammenhang muß man sich auch an ähnliche Ausdrucksmöglichkeiten erinnern, die seit je in unserer Sprache heimisch gewesen sind, wie z. B. ‚eine Maschine in Gang Setzen‘ oder ‚etwas zur Verfügung stellen‘, Sie können durchaus das Muster für die oben angeführten Fälle abgegeben haben, Nicht immer braucht also eine nominale Wendung das Zeichen für sprachliche Sorglosigkeit zu sein; doch müssen wir daran denken, daß es hier Grenzen gibt, die ohne Gefahr für unsere Sprache nicht überschritten werden dürfen. Ähnlich sorgfältig sollten wir auch die Ausdrücke prüfen, die aus der Sprache der Technik in unsere Umgangssprache und Schriftsprache dringen. Seit vielen Jahrzehnten hat uns die Technik, die ja aus fast keinem Bereich unseres Lebens mehr wegzudenken ist, zahlreiche Wendungen und Wörter geliefert. Sie zeichnen sich in der Regel durch große Anschaulichkeit und Bildkraft aus. Völlig eingebürgert sind Ausdrücke wie ‚entgleisen‘, ‚eingestellt sein‘, ‚Einstellung‘ u. a.; neueren Datums sind ‚ankurbeln‘, ‚aufdrehen‘, ‚geladene Atmosphäre‘ u.ä., die vor allem von der Umgangssprache aufgegriffen worden sind. Das durch diese Ausdrücke im Hörer geweckte Bild des technischen Vorgangs ist aber manchmal noch zu lebendig, so daß es, mit anderen Lebensbereichen in Beziehung gesetzt, störend wirken kann. So ist z. B. bei dem schon zum Modewort gewordenen ‚aufziehen‘ Vorsicht am Platze. Da hört man – im schriftlichen Gebrauch findet man das Wort seltener —, daß eine Versammlung, eine Ausstellung, eine Kundgebung und anderes mehr ‚aufgezogen wird‘. Man will damit eigentlich ausdrücken, daß alles so präzise und berechnet abläuft oder ablaufen soll, wie wir es bei einem Uhrwerk und im Umgang mit Maschinen gewohnt sind. Doch wirken vor allem Gleichsetzungen des Menschen und seiner Handlungen mit technischen Einrichtungen und Vorgängen peinlich, weil sie den Menschen entwürdigen. Eigens für die Technik geschaffene Ausdrücke lassen sich also nicht ohne bestimmte Vorbedingungen in anderen Bereichen verwenden. Das kann jedoch nicht heißen, daß überall und grundsätzlich derartige Ausdrücke abgelehnt und vermieden werden müßten. Wiederum kommt es auf den Inhalt an, der ausgedrückt werden soll, und auf die Umstände, unter denen das geschieht. Auch im Einfluß fremder Sprachen brauchen wir nicht grundsätzlich eine Bedrohung unserer Sprache zu sehen. Eine gegenseitige Beeinflussung der Sprachen ist ein ganz normaler Vorgang, der sich aus den ökonomischen, politischen und kulturellen Beziehungen zwischen den Völkern ergibt. Die Völker, die auf einem dieser Gebiete weiter entwickelt sind, geben oft zusammen mit der Sache selbst auch die Bezeichnungen weiter. So haben z.B. unsere Vorfahren einst mit dem Steinhaus und seiner Bauweise die damit zusammenhängenden Bezeichnungen übernommen, wie Mauer, Fenster, Estrich, Dach usw. Allerdings wird die Funktion der Sprache als Verständigungsmittel gefährdet, wenn fremde Wörter in Massen eindringen, vorhandene Wörter zurückdrängen und die Sprache überfremden, wie es seit Jahren in Westdeutschland der Fall ist.

Hier hat z.B. das englische Wort ‚hobby‘ das Steckenpferd, der ‚teenager’ den Backfisch verdrängt. ‚Party, team, quiz, Körperspray’ oder ‚drink‘ und viele andere Wörter englisch-amerikanischen Ursprungs sind weit verbreitet und teilweise bis zu uns gelangt. Ihr Gebrauch erschwert die Verständigung, denn für die Mehrzahl der Sprecher, die ja die fremde Sprache nicht beherrschen, ist es unmöglich, aus dem Stamm und der Bildungsweise des Wortes seine Bedeutung zu erschließen, wie es bei den meisten Wörtern der Muttersprache möglich ist. Gleiches gilt auch für andere Fremdwörter, die häufig als Fachausdrücke in Wissenschaft und Kultur, Politik und Wirtschaft benutzt werden, weil sie international bekannt und gebräuchlich sind (sog. Internationalismen). Außerhalb dieses Geltungsbereichs sind sie nur dort am Platze, wo ihre Bedeutung klar erkennbar oder allgemein bekannt ist, wie z.B. bei den Wörtern ‚Material, Produktion, Kapitalismus‘. Wenn wir auch im Hinblick auf die Fremdwörter in unserer Sprache nicht kleinlich zu sein brauchen, so sollte im Umgang mit ihnen doch die alte Faustregel gelten: Soviel Fremdwörter wie nötig und so wenig wie möglich. Fast den gleichen Charakter wie Fremdwörter können die künstlichen Wörter, die Abkürzungen, haben. An und für sich sind sie aus dem gesunden Bedürfnis heraus entstanden, die Sprache von immer wiederkehrenden langen und umständlichen Bezeichnungen zu entlasten. Sicher werden die meisten Menschen bei uns nur bei besonderen Anlässen Deutsche Demokratische Republik, in der Regel aber DDR sagen. Noch verbreiteter sind Abkürzungen im Geschäfts- und Verwaltungsverkehr und unter Fachleuten; dort haben sie auch ihre Berechtigung. Aber wir dürfen nicht vergessen, daß Abkürzungen nur Marken und Formeln für die ihnen zugrunde liegenden vollständigen Wörter sind und ohne Kenntnis der letzteren nicht oder nur unvollständig verstanden werden können. Dann müssen wir auf Abkürzungen verzichten, wenn wir uns in Wort oder Schrift an ein Publikum wenden, von dem wir annehmen müssen, daß ihm diese fremd sind. Anderenfalls wird unsere Sprache für die meisten zu einer Art Geheimsprache und so für die Verständigung in der Öffentlichkeit unbrauchbar. Zwar gibt es allgemein verbreitete Abkürzungen und Abkürzungswörter, aber das sind Ausnahmen. Wir müssen z. B. erraten, was das ‚NPT‘ hinter dem Namen eines Künstlers wohl heißen soll (Nationalpreisträger!). Ärmer wird unsere Sprache nur, wenn wir dies zulassen, denn es liegt nicht in ihrem Wesen. Die vorstehenden Beispiele lassen den Schluß zu, daß es in unserem Sprachgebrauch neben dem Gesunden auch einige gefährliche Elemente gibt, die eine Verkümmerung unserer Sprache zur Folge haben können. Die letzte Entscheidung liegt jedoch bei jedem von uns. An uns liegt es schließlich, ob wir uns solchen Tendenzen unterwerfen, oder ob wir bewußt den Ausdrucksreichtum unserer Sprache benutzen und vermehren. Diese Kenntnisse über den Reichtum unserer Sprache zu vermitteln, ist nicht nur Aufgabe der Schule, sondern eine ebenso große Verantwortung trägt hier auch die Sprache unseres Öffentlichen Lebens, die Sprache der Schriftsteller, der Zeitungen, des Rundfunks und Fernsehens und nicht zuletzt jedes politischen Funktionärs. Ihr Vorbild wirkt tief in alle Schichten unserer Sprachgemeinschaft.

— DR. WILHELM BONDZIO – BERLIN —


Literatur zur Sprachpflege: Elise Riesel, Stilistik der deutschen Sprache, Verlag für fremdsprachige Literatur, Moskau 1959 F.C. Weiskopf, Verteidigung der deutschen Sprache, Aufbau Verlag, Berlin 1955 Kleine Grammatik der deutschen Sprache, VEB  Bibliographisches Institut, Leipzig 1955 Die deutsche Sprache, Lehr- und Übungsbuch für Fachschule und Erwachsenenbildung, Fachbuchverlag, Leipzig 1956

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